Der streunende Romantiker – Tom Waits zum 70.

In den Feuilletons großer Zeitungen und Magazine haben sich heute viele die Finger wundgeschrieben, um den amerikanischen Songwriter Tom Waits zum 70. Geburtstag zu würdigen. Viel verdiente Ehrerweisung und Wertschätzung kommt da zum Ausdruck. Transportiert werden in den Beiträgen, wenig überraschend, die ewigen Klischees vom Außenseiter und Kauz, die Waits durch sein Leben und Werk sicher befördert hat.

Seine besondere musikalische Qualität an der Schnittstelle von Folk, Blues, Jazz, Vaudeville, gepaart mit dem Hang zu manchmal bizarren, teils spookigen Sounderkundungen spielt ebenso eine Rolle in den Betrachtungen über den Ausnahmekünstler Waits wie seine diversen, viel beachteten Auftritte als Schauspieler (z. B. in Jim Jarmusch „Down By Law“) und die Zusammenarbeit mit Robert Wilson in dessen eigenwilligem Theaterkosmos (Black Rider).

Alles gut recherchiertes, routiniertes journalistisches Handwerk, aber was mir dort durchweg neben den zu erwartenden Konnotationen fehlt, was nur marginal aufblitzt zwischen abertausend Zeilen, sind echte, starke Emotionen der Autoren, die innere Beteiligung und Berührung, von Waits-Songs überwältigt zu sein. Genau das aber macht die Einzigartigkeit dieses phänomenalen Geschichtenerzählers aus, die Kunst, Gefühle zu beschreiben und auf so intensive Weise zu vermitteln, dass man wie ich von Beginn an zutiefst gerührt, gepackt, wehrlos ist. Von im wahrsten Sinne des Wortes umwerfenden, durch Musik erzählten Stories. Nicht selten treiben mir, vor allem frühe Waits-Songs Tränen in die Augen, weil sie so wahrhaftig sind und bisweilen wunderschön hinein schmerzen in die eigenen Erfahrungs- und Erkenntnisgefilde.

Tom Waits übermannt einen mit der emotionalen Wucht des nackten, ungeschönten Lebens, mit dem Mut und der Sensibilität, hinter die Kulissen des amerikanischen Traums zu blicken und die Randfiguren, jene, die im Schatten stehen, zu beleuchten, vermeintliche Hässlichkeit in Momente von Schönheit zu verwandeln. Diese Gabe der feinfühligen Beobachtung, Solidarität und Empathie mit den oft übersehenen, teils miss- oder sogar verachteten Menschen macht Waits zum songpoetischen Solitär.

Wo Springsteen der „Boss“ ist, ist Waits der „Buddy“, der vom Leben in der Gosse erzählt, von Trinkern, Kleinkriminellen und Huren, von Drahtseilakten des Überlebens über dem Abgrund der Ausgrenzung, in den stets diejenigen blicken, die nicht der Mitte einer Gesellschaft angehören. Waits singt von und für die „Verrückten und seitlich Umgenickten“, wie der Kabarettist und Menschenfreund Hanns Dieter Hüsch einst so treffend formulierte. Da werden von Waits dann auch mal in einem über 10 Minuten langen Track die „Sins Of My Father“ verhandelt, eine grandiose Blues-Litanei, die aus dem fabelhaften Album „Real Gone“ herausragt.

Niemand dient besser als Passepartout für das berühmte „Nighthawk“-Sujet des US-Malers Edward Hopper. Tom Waits Lieder sind wie verlorene Gestalten, Lebensstreuner, die zu später Stunde ihre Einsamkeit in leeren Bars zu Frank Sinatra Songs ertränken oder in Hinterhöfen Nachtquartier suchen. „The Piano has been drinking not me“ ist eine dieser präzisen Zeilen, die den Taumel der Seelenbetäubung beschreiben, durch den von Sehnsucht getriebene Melancholiker stolpern, auf der Suche nach sich selbst, etwas Liebe, Zugewandtheit und Zugehörigkeit.

Tom Waits, der sich dank der Begegnung mit seiner heutigen Frau und Co-Autorin vieler Songs, Kathleen Brennan, selbst als Geretteter aus der Spirale bedrohter, zum Scheitern verurteilter Existenzen (sein Vater war Trinker) betrachtet, versteht es wie kein zweiter, einem diesen fremden emotionalen Kosmos zu erschließen, in dem man sich wie eine „Trampled Rose“ fühlt.

Seine melancholischen Melodien und seine knarzige, brüchige, von Alkohol und Zigaretten perfekt auf sein Kneipensongkunst zugerichtete Stimme machen einen vertraut mit prekären Situationen und zum mitfühlenden, verständnisvollen Verbündeten jener Parallelgesellschaften am Rand von Wohlstand und Konsumsucht. Da braucht es schon die Ironie eines „Chocolate Jesus“, damit solche verlorenen Seelen in den Untiefen ihrer Existenz Gottvertrauen entwickeln.

Tom Waits Songs sind wie Bukowski-Gedichte und Geschichten. Zugleich roh, rau, bis zur Schmerzgrenze realistisch und andererseits zärtlich, einfühlsam, leidenschaftlich. Ein großer Romantiker ist dieser Tom Waits, bei allem, was ihn später zur musikalischen Avantgarde und damit in die Hochkultur getrieben hat. So sehr ich auch seine Experimente und Grenzüberschreitungen, seinen Hang zur Exzentrik schätze, diese Vielgestaltigkeit des Ausdrucks, mit dem er sein musikalisches Spektrum immer wieder aufgebrochen und erweitert hat, mein Herz hat Waits stets mit seinen Liebesliedern erobert, die mich noch jedes Mal in die Knie gezwungen haben, weil sie schlicht zum Niederknien sind.

Das flehentlich, herzergreifende Telefongespräch „Martha“, in dem die Verzweiflung über eine verlorene Liebe so schmerzhaft spürbar wird, ist nur einer von vielen vielen unvergleichlichen love songs von Waits für die Ewigkeit, voller Wärme, Hingabe, aber auch Vergeblichkeit, Endlichkeit. In „Ruby’s Arms“ möchte man sich umgehend genauso verlieren wie der Sänger, mit Mathilda Walzer tanzen wie in „Tom Taubert’s Blues“. All diese Frauenfiguren verkörpern die Liebe in ihrer geheimnisvollen Magie, Dramatik, Tragik. Das Gelingen wie das Scheitern ist ein Paar, das bei Waits Hand in Hand geht.

Unfassbar schön auch die späteren romantischen Juwelen wie „Picture In A Frame“, „Hold On“ oder „Take It With Me“ vom fabelhaften Album „Mule Variations“. Nur ein spärliches Piano und Waits Stimme reichen, um gewaltige innere Vibrationen auszulösen. Letzterer Song geht mir jedes Mal unter die Haut, wenn ich in Gedanken mit dem Sänger durch das dort besungene alte Haus gehe und all die kleinen Details verinnerliche, die von einer großen Liebe zeugen. Was für ein gigantischer Abschiedssong, welche starken Emotionen.

Und schließlich war, ist und bleibt da immer dieser eine persönliche Übersong, der für mich der Inbegriff von Waits romantischer Songpoesie ist. Das, was die Blaue Blume als Sinnbild des Romantischen in der deutschen Literatur ist, ist für mich der „Grapefruit Moon“ als entsprechendes Symbol im Kanon der amerikanischen Musik.

Tausend Dank, Tom Waits, für diese lange lange Liste an Lieblingsliedern, die ich Deinem reichen, illustren Schaffen verdanke. Alles Gute zum 70. Geburtstag und hoffentlich beschenkst Du mich und Deine Bewunderer bald mal wieder mit einem neuen großen Album, das einem die Augen öffnet und die Herzen weitet.

tomwaits.com

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert