Zum Tod von Agnes Varda: Augenblicke – visuelle Poesie

Dieser Beitrag beginnt mit der traurigen Nachricht, dass die Regisseurin Agnes Varda heute im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Und so fällt es mir heute zugleich schwer und leicht, den seit langem vorbereiteten Beitrag über den wunderbaren Film „Augenblicke“ zu posten, weil er das Andenken an diese Künstlerin auf besondere Weise bewahrt.

Es handelt sich um einen Dokumentarfilm von großer Warmherzigkeit. Geprägt von zwei Künstlern verschiedener Generationen, die sich in einem menschenverbindenden Projekt begegnen und in einen Dialog über das Leben treten, der leicht ist wie ein Glas Weißwein an einem Sommerabend. Die liaison artistique zwischen Agnes Varda und dem deutlich jüngeren Foto- und Street Art-Künstler JR führt die beiden in dem 2018 für einen Oscar nominierten Werk auf eine Reise quer durch ihre französische Heimat, um Menschen und ihre Geschichten fotografisch auf besondere Weise in ihrem Lebensumfeld zu verewigen.

Straßen und Gassen von Dörfern und Städten, Fabriken werden zu raumgreifenden Leinwänden, wenn JR mit seinem Team überlebensgroße Schwarz-Weiß-Porträts auf Hauswände, Mauern, Scheunen kleistert – ambient art at ist best. Eine Ausstellung von Menschen wie du und ich im öffentlichen Raum, eine von Ort zu Ort sich erweiternde Galerie von Gesichtern. Fotografie wird zur Poesie, Menschen werden zu lyrischen Bildern. Es ist eine Freude, die Grand-mère de la Nouvelle Vague, wie Varda von Kritikern liebevoll bezeichnet wurde, im Dialog mit dem jüngeren Projketpartner zu erleben.

„Der Zufall war immer mein bester Assistent“ sagt Agnes Varda einmal am Küchentisch zu JR während der Planungen für die gemeinsame Bilder-Reise durch Frankreich. Ein besserer Leitsatz könnte nicht über dem stehen, was sich da an „großer Kunst“ aus kleinen Geschichten im öffentlichen Raum entwickelt. Geprägt von einfachen Menschen, die liebevoll porträtiert werden. Sei es die rebellische Mieterin, die sich mutig gegen eine Räumung zur Wehr setzt oder der gutherzige Briefträger, der nicht nur Einkäufe für ältere Dorfbewohner erledigt, sondern auch Talent als Maler zeigt.

Da wird eine junge Mutter zum Blickfang an einer belebten Gasse, ein Landwirt freut sich über die Verewigung einer Ziege auf seiner Scheune und eine ganze Dorfgemeinschaft macht aus der Fotoaktion ein Sommerfest. Und wir lernen Pony kennen, den originellen Lebens-Künstler, der trotz seiner Armut eine ungeheure Zufriedenheit vermittelt, wenn er die beiden Filmemacher in sein kleines, bescheidenes, kunterbuntes Reich des improvisierten Lebens einlädt.

Zutiefst melancholisch wird es, wenn Agnes Varda mit JR das Haus ihres berühmten Regiekollegen Jean-Luc Godard besucht, um mit ihm mal wieder zu frühstücken und der weder die Türe öffnet noch sonst ein Zeichen von sich gibt. Eine herbe Enttäuschung für die alte Dame, die ihr tiefe Traurigkeit ins Gesicht zeichnet, wohl ahnend, dass dies die letzte Gelegenheit zu einem Treffen unrealistisch alten Freunden sein könnte.

Pure Poesie die überdimensionale Kopie von zwei Nackten auf einer Bauruine, Fische vom Markt auf ein Silo geklebt oder die drei starken Frauen von Hafenarbeitern in Le Havre, die sich hoch oben in einer monumentalen Wand von Containern für das „Inside Out Project“ mutig zur Schau stellen. Nicht zuletzt die Reminiszenz an den Godard-Film „Die Außenseiterband“, wenn Varda und JR versuchen, einen neuen Besuchszeitrekord im Louvre aufzustellen, indem er sie im Rollstuhl im Affenzahn an den Bilderwänden vorbei durch einen Museumsflügel schiebt.

Wenn Varda und JR zuletzt an einem See sitzen und der junge Mann versucht, die alte Dame über die Godard-Enttäuschung hinweg zu trösten, ist das der rührende Schlusspunkt eines Films, der seine Größe aus eben dieser menschlichen Zugewandtheit bezieht. Wie schön, dass Agnes Varda auf der diesjährigen Berlinale noch mit dem Ehrenpreis, der Berlinale Kamera geehrt wurde. Möge Sie, die solch wunderbaren Augenblicke geschaffen hat, in Frieden ruhen und ein überdimensionales Porträt auf der Himmelspforte bekommen.

Nachtrag:

Interessant auch die vielen anderen Fotoprojekte von JR, u. a. „Women are heroes“, das er 2008-2009 in den Favelas von Rio de Janeiro realisierte. Oder „Face 2 Face“, ein Projekt, für das JR in Israel und Palästina die größte illegale Fotoausstellung der Welt inszensierte und in verschiedenen Städten beider Staaten Porträts von Israelis und Palästinensern so nebeneinander präsentierte, dass der unendlich scheinende Konflikt der Völker sich von einem Moment auf den anderen in friedvolle Harmonie verwandelte.

https://www.jr-art.net


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